„Wir halten die Regelung für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar“

Andreas Engelmann steht zusammen mit Cara Röhner und ihrer Verfassungsbeschwerde vor dem Gebäude des Bundesverfassungsgerichts

Worum geht es in aller Kürze bei eurer Verfassungsbeschwerde?

In den letzten Jahren ging es bei der Rente vor allem in eine Richtung: Höheres Eintrittsalter, niedrigere Bezüge. Eine Ausnahme war 2014 die „Rente mit 63“. Jahrgängen mit hoher Arbeitsintensität und vielen Beitragsjahren sollte ein früherer Zugang zur Rente ohne Abzüge ermöglicht werden. Die Hürde ist allerdings hoch, notwendig sind 45 Beitragsjahre. Seit der Reform fallen auch Bezugszeiten von Arbeitslosengeld dar. Das ist auch richtig, in dieser Zeit werden schließlich auch Beiträge an die Rentenversicherung abgeführt. Nun wurde hier aber eine Ausnahme gemacht: Die zwei Jahre zählen nicht, wenn die Arbeitslosigkeit vor den Rentenbeginn fällt. Damit waren viele Kolleg:innen raus, die in hohem Alter ihren Job verloren haben. Die DGB-Gewerkschaften fanden diese Ausnahme ungerecht und haben angefangen, Musterverfahren zu führen. Wir glauben, dass es nicht zulässig ist, Kolleg:innen zu benachteiligen, die in hohem Alter unfreiwillig arbeitslos werden – und die ansonsten alle Voraussetzungen erfüllen.

Du hast die Musterverfahren angesprochen. Kannst du etwas zum konkreten Fall sagen?

Konkret geht es um zwei IG Metall-Mitglieder, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, weil ihr Arbeitgeber im Zuge einer Umstrukturierung fast den vollständigen Geschäftsbetrieb aufgegeben hat. Danach haben sie zwei Jahre lang Arbeitslosengeld bezogen. Wenn man diese Zeiten einbezieht, hätten sie eine abschlagsfreie Rente erhalten können. Die Rentenversicherung hat das auf Grundlage der Gesetzeslage verweigert. Die beiden müssen deshalb dauerhaft Abschläge bei ihrer Rente hinnehmen, für die Kollegen geht es da um ca. 40.000 Euro. Die IG Metall wollte die abschlägige Entscheidung des Bundessozialgerichts nicht auf sich beruhen lassen und hat deshalb Prof. Dr. Cara Röhner von der Hochschule Rhein/Main und mich beauftragt, das Verfahren vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen. Denn wir halten die gesetzliche Regelung für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.

Warum haltet ihr die Regelung denn für verfassungswidrig?

Das SGB VI sieht vor, dass Zeiten des Arbeitslosengeldbezuges in den letzten beiden Jahren vor Rentenbeginn nur bei Insolvenz oder vollständiger Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers berücksichtigt werden können. Damit soll Missbrauch beim Übergang zur Rente vermieden werden. In unseren Augen ist diese Unterscheidung aber nicht sachgemäß, weil es sehr viele weitere Fälle unfreiwilliger Arbeitslosigkeit gibt. Die Fälle der beiden Kollegen zeigen das sehr gut, und die beiden sind ja nicht allein: Es gibt viele Dutzend weitere Verfahren, die der DGB-Rechtsschutz dazu führt. Die Gerichte gehen momentan davon aus, dass der Gesetzgeber einen besonders weiten Spielraum hat, wenn es um Sozialleistungen geht. Aber aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich eigentlich, dass auch der Gesetzgeber an Art. 3. Abs. 1 GG gebunden ist. Er muss wesentlich Gleiches auch gleich behandeln.

Kannst du noch einmal ein bisschen tiefer in eure Beschwerde eintauchen und erklären, welche neuen verfassungsrechtlichen Argumente ihr anführt?

Neu sind vor allem zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts, die klarstellen, dass der Gesetzgeber auch im Sozialrecht nach Kriterien differenzieren muss, die nachvollziehbar sind und ihre Ursache in feststellbaren Tatsachen haben. Wenn der Gesetzgeber also sagt, er möchte Missbrauch verhindern – wie in unserem Fall – dann muss er zeigen, warum sein Differenzierungskriterium geeignet ist, tatsächlich Missbrauchsfälle zu identifizieren. Und vor allem müsste er erst einmal darlegen, dass eine Missbrauchsgefahr überhaupt besteht. Schon das ist ihm bisher nicht gelungen.

Vorhin hast du schon angesprochen, dass es um mehr Fälle geht als die der beiden Kollegen. Welche Bedeutung hat eure Beschwerde für die Betroffenen und inwiefern sind auch andere Menschen betroffen?

Man muss sich vor Augen führen: Die Verfahren ziehen sich schon seit zehn Jahren! Die Gewerkschaften haben daraus zurecht ein großes Thema gemacht. Wenn wir Erfolg haben, bedeutet das für die betroffenen Kolleg:innen vielfach 7,2 % mehr Rente. Das ist bei den niedrigen Renten direkt spürbar und macht einen großen Unterschied. Es gab nach 2014 eine große Klagewelle. Betroffen sind Tausende, aber nicht alle haben auch geklagt. Für die offenen Verfahren würde es einen großen Unterschied machen, wenn unserer Verfassungsbeschwerde rechtgegeben wird. Neben dem Geld geht es dabei auch um Wertschätzung für Menschen, die extrem lange gearbeitet haben.

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Beteiligte Person

Prof. Dr. Andreas Engel­mann