Oliver, du hast gerade deinen Abschluss bei uns gemacht, herzlichen Glückwunsch! Angefangen hat deine Karriere mit einer Ausbildung zum Industriemechaniker bei der Siemens AG in Bad Neustadt/S., du wurdest dort direkt auch als Jugendvertreter gewählt. 2016 bist du dann Betriebsratsvorsitzender geworden, immer noch im gleichen Betrieb. Welches Thema war in den 26 Jahre das wichtigste?
Oliver Mauer: Bei uns in Bad Neustadt/S. ganz klar das Thema Standort- und Beschäftigtensicherung. Wir haben bei uns im Betrieb 2010 einen sehr intensiven Arbeitskampf geführt. Damals sollte die Zahl der Beschäftigten halbiert werden, inklusive Produktverlagerung und Teilbetriebsschließung. Das haben wir mit einer Vielzahl von kreativen Protestaktionen über einen Zeitraum von fast vier Monaten verhindert. Im Zuge der ganzen Veränderungsthematiken haben wir uns letztlich sogar zu einem Vorzeigewerk in Sachen Digitalisierung innerhalb der Siemens AG entwickelt.
Das klingt nach einer ziemlich spannenden Entwicklung. Wie habt ihr als Betriebsratsgremium denn das Thema angepackt?
Erst einmal: Natürlich nicht allein. In der heftigen Auseinandersetzung 2010 haben wir immer die Position bezogen: Wir protestieren nicht gegen das Unternehmen, sondern wir kämpfen für den Erhalt der Arbeitsplätze. Über flächendeckende Abteilungsversammlungen im gesamten Betrieb wurde ein intensiver Dialog mit den Beschäftigten gestartet und bis heute konsequent und auf allen Ebenen weitergeführt. Wir müssen über die Themen reden, bevor sie zu Problemen werden. Nur so entstehen Zukunftsperspektiven. Durch diesen Dialog konnten wir eine völlig andere Arbeitsweise mit der Betriebsleitung etablieren – weil auf der anderen Seite erkannt wurde: Da sitzen keine, die nur die rote Fahne schwingen und gegen alles sind. Die Führungskräfte merkten, dass wir wissen, wovon wir reden. Wir wollen gemeinsam Perspektiven und Geschäftsmodelle entwickeln, die langfristige Beschäftigung am Standort sichern.
Nach all den Herausforderungen hast du dir dann also erst mal gedacht: Warum jetzt nicht auch noch studieren?
(lacht) Als ich 2018 das erste Mal den Flyer bekommen habe und dann von der Geschäftsstelle gefragt wurde, war meine erste Reaktion: niemals! Ich hatte einen qualifizierten Hauptschulabschluss und dann die mittlere Reife über die Berufsausbildung gemacht. Ich war meilenweit davon entfernt, jemals studieren zu wollen …
… und bist dann doch bei uns an der UoL gelandet.
Die IG Metall hat mich kontaktiert und klar gesagt, dass sie mir das auf Basis unserer jahrelangen Zusammenarbeit zutrauen würden. Nach einiger Zeit hat mich dann die Idee fasziniert, zu studieren. Also habe ich mich beworben, zum Glück. Im Nachhinein muss ich sagen, ich empfehle jedem, es zu probieren. Selbst, wenn es dann doch nichts wird. Das ist besser, als später zu denken: hätte ich nur. In Summe bin ich sehr stolz darauf, als Hauptschüler einen Studienabschluss erreicht zu haben – und das ohne Verlängerungen oder Nachprüfungen. Und auch darauf, dass ich von meinem Betriebsratsteam in dem Zeitraum getragen wurde. Meine Rolle im Gremium wurde durch die Kombination aus Studium und den Erfolgen, die wir gemeinsam erreicht haben, zusätzlich gestärkt.
Die Hochschule war für dich ja Neuland. Erzähl mal, wie lief das Studium für dich an?
Im Aufnahmegespräch hieß es: Ihr braucht ein Projekt. Da habe ich mir natürlich überlegt, was ich machen kann. Mich hat das Thema Entwicklung der Betriebsratsarbeit besonders gepackt, also: Wie stelle ich ein Betriebsratsgremium zukunftsorientiert auf? Welche Personen, Kompetenzen und Fähigkeiten benötigen wir? Wie entwickeln wir die Betriebsräte so weiter, dass wir selbstständig und arbeitsteilig agieren können – um mich als Vorsitzender auch den strategischen Fragen widmen zu können.
Was kannst du durch das Studium jetzt besser als vorher?
Das Thema strategische Personalplanung war mir schon immer wichtig. In den Themenbereichen Organisationsentwicklung und Veränderungsprozesse habe ich hierzu ganz viel Input bekommen. Meine Erfahrungswerte, die ich in der Funktion eh schon gesammelt habe, konnte ich mit einem breiten wissenschaftlichen Hintergrund untermauern, und im Studium auch noch mal ganz anders diskutieren. Im Nachhinein muss ich sagen, dass mir die Spiegelung durch die Studiengruppe, die verschiedenen Hausarbeiten, die Bachelorarbeit und das damit verbundene Feedback schon sehr viel gebracht haben.
Inwiefern würdest du sagen, dass sich deine Arbeit als Betriebsratsvorsitzender durch das Studium verändert hat?
Meine strategischen und organisatorischen Fähigkeiten haben sich deutlich weiterentwickelt. Das ganze Thema Leadership, der Umgang mit den verschiedenen Mitarbeitergruppen, wie ich die verschiedenen Betriebsratsmitglieder stärkenorientiert einbinde, das hat sich alles sehr verändert. Früher hatte ich eher den Ansatz: Jeder muss alles können und wenn jemand fragt, muss man immer eine Antwort haben. Jetzt weiß ich: Ich muss nicht alles wissen, aber ich muss jemanden kennen, der es weiß oder wo es steht. Die Wichtigkeit persönlicher Neigungen ist mir viel bewusster geworden. Die Aufgaben im Betriebsrat sollten zu den Menschen passen, so dass sie die besten Entfaltungsmöglichkeiten haben. Unser Prof. hat immer gesagt: Ihr müsst die intrinsische Motivation entfachen.
Noch eine letzte Frage zum Abschluss: Welcher Moment in deinem Studium ist dir ganz besonders in Erinnerung geblieben?
Richtig klick gemacht hat es bei Wirtschaftsmathematik und Statistik. Da dachte ich erst: Was habe ich mir hier angetan, das war extrem schwer. Aber da habe ich so viel Unterstützung von der Lerngruppe und dem Ehemann einer Studienkollegin bekommen, dass ich am Ende das Fach mit einer Eins abgeschlossen habe. Der Teamzusammenhalt war unglaublich. Die Möglichkeit zum Austausch, die vielen verschiedenen Ansätze und Perspektiven, dass ich mit meinen Mitstudierenden aus so vielen unterschiedlichen Betrieben Fragen und Herausforderungen diskutieren konnte – das war grandios. Ein besonderer Dank gilt aber natürlich meiner Familie, die mich in dieser Zeit immer unterstützt hat.
Oliver, vielen Dank für das Gespräch.