Was bedeutet die BAG-Entscheidung zur Arbeitszeiterfassung?

Blick in zwei Seminarräume im House of Labour

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat am 13.09.2022 eine aufsehenerregende Entscheidung getroffen, die Millionen von Menschen in Deutschland betrifft: Arbeitgeber sind demnach ab sofort in verpflichtet, die Arbeitszeit aller Beschäftigten genau zu erfassen (BAG, 13.09.2022, 1 ABR 22/21). Bis jetzt waren Arbeitgeber in Deutschland nur in bestimmten Fällen, wie etwa bei Zahlung von Mindestlohn oder bei Sonn- und Feiertagsarbeit, ausdrücklich dazu verpflichtet, die Arbeitszeit der Beschäftigten aufzuzeichnen. Grund genug, das Urteil genau zu betrachten. Da bisher noch keine Urteilsbegründung vorliegt, können sich die folgenden Ausführungen nur an der Pressemitteilung des Gerichts orientieren und sind dementsprechend vorläufig.

Wie es zur Entscheidung kam

Ursprünglich ging es im BAG-Verfahren allein um eine mitbestimmungsrechtliche Frage: Hat der Betriebsrat ein Initiativrecht bei der Einführung von elektronischer Arbeitszeitüberwachung? Diese Frage war zwischen verschiedenen Arbeits- und Landesarbeitsgerichten umstritten – obwohl das BAG bereits 1989 klargestellt hatte, dass es ein solches Initiativrecht nicht gebe. Grund für die damalige Entscheidung: Der Betriebsrat sei zugunsten der Beschäftigten da, er könne daher nicht die Einrichtung einer solchen „Kontroll-Einrichtung“ initiieren.

Der Betriebsrat meinte im konkreten Fall aber nun, dass diese Ansicht nicht mehr zeitgemäß sei. Arbeitszeitüberwachung diene weniger der Kontrolle der Beschäftigten, sondern vielmehr gerade deren Gesundheitsschutz. Diese Argumentation beruht auf einer wichtigen Aussage des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg (EuGH) in der berühmten CCOO-Entscheidung, mitunter „Stechuhr-Entscheidung“ genannt (EuGH, 14.5.2019, C-55/18). Der EuGH hatte geurteilt, dass sich aus der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG sowie auch aus Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta der EU ergebe, dass die Arbeitszeit der Beschäftigten aus Gründen des Gesundheitsschutzes überwacht werden müsse. Daher hat der EuGH den Mitgliedstaaten aufgegeben, die Arbeitgeber zu verpflichten, ein „objektives, verlässliches und zugängliches“ System zur Erfassung der Arbeitszeit der Beschäftigten einzuführen.

Schneller als die Ampel

Allerdings gingen die meisten Expert:innen in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft davon aus, dass der jeweilige nationale Gesetzgeber erst ein entsprechendes ausdrückliches Gesetz zu schaffen hat, da Privatpersonen und Unternehmen nicht durch EU-Richtlinien direkt verpflichtet werden könnten. Der Koalitionsvertrag der Ampel-Koalition sieht daher vor, dass die Auswirkungen der EuGH-Entscheidung – auch bezüglich Regelungsbedarfen – geprüft werden sollten.

Das BAG war jetzt allerdings schneller als die Ampel: Es hat festgestellt, dass man § 3 ArbSchG entsprechend der EuGH-Entscheidung europarechtskonform bereits so auslegen könne und müsse, dass die Arbeitgeber schon jetzt die Pflicht haben, die Arbeitszeit der Beschäftigten zu überwachen. Der entsprechende Paragraph regelt die Pflicht der Arbeitgeber, für den Arbeitsschutz der Beschäftigten einschließlich Gesundheit und Sicherheit zu sorgen. Daher steht für das BAG fest, dass Arbeitgeber ab sofort das vom EuGH geforderte „objektive, verlässliche und zugängliche“ System zur Arbeitszeiterfassung umgehend vorzuhalten haben.

Was folgt aus der Entscheidung

Die DGB-Gewerkschaften befürworteten die Entscheidung, u. a. deshalb, weil mit Hilfe einer konsequenten Arbeitszeiterfassung in Zukunft Millionen unbezahlter verhindert werden könnten. Einige Arbeitgeberverbände kritisierten die Entscheidung, da eine solche Aufzeichnungspflicht nicht notwendig und bürokratisch aufwändig sei. Solange nun keine andere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erfolgt oder der Gesetzgeber etwas anderes regelt, gilt die Erfassungspflicht für Arbeitgeber gemäß der BAG-Entscheidung ab sofort und in allen Betrieben – auch in solchen ohne Betriebsrat sowie in Kleinbetrieben.

Betriebsräte haben jetzt gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG die Aufgabe, den Arbeitgeber auf seine Pflicht zur Einführung einer Arbeitszeiterfassung hinzuweisen. Gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG kann der Betriebsrat die konkrete Ausgestaltung der Arbeitszeitüberwachung mitbestimmen.

Umsetzung auch ohne Stechuhr

Bei der konkreten Ausgestaltung der Aufzeichnung hat der EuGH den Mitgliedstaaten viel Freiraum belassen: Diese könnte neben der klassischen Stechuhr auch mit Zettel und Papier, Excel-Tabellen oder Apps erfolgen. Die EuGH-Entscheidung ist also keine „Stechuhr-Entscheidung“ im engeren Sinne. Möglicherweise erwartet das BAG nun aber etwas „Technisches“ zur Arbeitszeiterfassung. Denn das BAG verknüpft die Arbeitszeiterfassung mit § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG, der sich wiederum nur auf „technische Einrichtungen“ bezieht. Damit sind nach ständiger Rechtsprechung optische, akustische, mechanische oder elektronische Geräte gemeint.

Wenn man sich an der Rechtsprechung des EuGH orientiert, kann die Aufzeichnung auch auf die Beschäftigten übertragen werden. Dadurch könnte mehr Flexibilität in der Umsetzung entstehen und Arbeitszeiterfassung auch im Homeoffice möglich sein. Schon das konsequente Aufschreiben der eigenen Arbeitszeiten könnte dazu führen, dass Ruhezeiten und die täglichen Höchstzeiten eingehalten werden – was wiederum dem eigentlich bezweckten Gesundheitsschutz dienen würde. Letztlich muss allerdings der Arbeitgeber verantwortlich bleiben – wobei er seiner Verantwortung ggf. auch schon durch Einrichtung des Systems und regelmäßige Stichproben gerecht werden könnte.

Und jetzt?

Eine gewisse Form der Vertrauensarbeitszeit kann in der Umsetzung also erhalten bleiben. Denn Arbeitgeber können den Beschäftigten auch weiterhin die Einteilung der täglichen Arbeitszeit anvertrauen. Aber: Die Arbeitszeit ist genau aufzuzeichnen. Pausenzeiten und Höchstarbeitszeiten nach dem ArbZG müssen zwingend eingehalten werden.

Betriebs- und Personalräte können und sollten sich jetzt stark in die Umsetzung der Arbeitszeiterfassungspflicht einbringen. Denn mit guten Betriebsvereinbarungen können sinnvolle und zumal datenschutzkonforme kollektive Regelungen zur Arbeitszeitaufzeichnung getroffen werden, die den Interessen der Beschäftigten entsprechen und Unternehmen wie Beschäftigte nicht mit Bürokratie überborden. Es wird auch an einer starken Mitbestimmung liegen, ob die Entscheidung des BAG letztlich wirklich zu gesundheitsförderlicheren Ergebnissen führen wird.